Evangelisierung
1. Grundsätzlich
Zu keiner Zeit war es einfach, das Evangelium zu verkünden. Weder im Römischen Reich, noch unter „christlichen Herrschern“, unter denen eine formale Anpassung wichtiger ist als ein Leben nach dem Evangelium, und natürlich schon gar nicht in nichtchristlichen Gesellschaften und Kulturen (vgl. 263). Also: Es gibt keine bessere Zeit für die Evangelisierung als heute.
Im Zentrum steht fest: „Es kann keine wahre Evangelisierung geben ohne eindeutige Verkündigung, dass Jesus der Herr ist“ (110, vgl. 165). Evangelisierung ist die Fortsetzung der Verkündigung des Evangeliums von Leben, Tod und Auferstehung Jeus Christi, von seinen Worten und Taten, von seinen Zeichen und Gesten.
In der Verkündigung gilt es, sich „auf das Wesentliche“ (35) zu konzentrieren, auf das, „was schöner, größer, anziehender und zugleich notwendiger ist“ (35). Es gibt eine „Hierarchie der Wahrheiten“ (36) sowohl in Glaubens- als auch in moralischen Fragen (vgl. 37). Man soll das rechte Maß finden (vgl. 38) in Bezug auf Themen, Ausführlichkeit, Akzentuierungen. Obwohl alles zusammenhängt, gilt vor allem der Primat der Barmherzigkeit (vgl. 37).
Im Folgenden werden die Begriffe Evangelisierung, neue Evangelisierung, Missionarisch-sein sehr allgemein und praktisch synonym verwendet; der Begriff Verkündigung ist sehr ähnlich, bezieht sich aber direkter darauf, dass explizit Jesus Christus zur Sprache kommt.
2. Freude
„Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen“ (1). Diese Freude drängt danach, sich mitzuteilen, mitgeteilt zu werden (vgl. 2ff).
Was ist Freude?
Man erlebt sie in verschiedenen Lebenssituationen unterschiedlich (vgl. 6). Und ebenso drückt sie sich auf unterschiedliche Weise aus.
Man denkt bei „Freude“ gern an schöne Gefühle, Emotionen, an Erlebnisse, die innerlich nachklingen, an überschäumende Begeisterung, an gelungene Überraschungen, an gute Begegnungen, an Erfahrung von Sinn – man spürt die eigene Lebendigkeit und dass es schön ist zu leben… – Und man würde gern anderen mitteilen, was einen so begeistert.
Man kann bei Freude auch an den Alltag denken (vgl. 4), an Dinge, wofür man dankbar sein kann, an scheinbare Selbstverständlichkeiten, die das Leben leichter machen. Es gibt kleine Freuden in Situationen, die man sich erst bewusst machen muss, um zu bemerken, dass hier ein Grund zur Freude ist: gute Beziehungen, Familie, ein Dach über dem Kopf, gesicherte Lebensgrundlagen. All das kann als Zeichen der Liebe Gottes verstanden werden, der daran erinnert, „das Glück des heutigen Tages“ (Sir 14,14) zu genießen … Diese Freude drückt sich vielleicht eher still aus, in Dankbarkeit und Zufriedenheit. – Man kann anderen mitteilen, was das Leben gut macht.
Die Freude, um die es Franziskus vor allem geht, hat ihren Grund in Jesus Christus und seiner Frohen Botschaft. Wer ihn findet, findet eine tiefere Lebensfreude und eine verlässliche Quelle, immer wieder Freude zu gewinnen und zu erneuern (vgl. 3).
Aber das gelingt nicht immer. Es gibt etwa Zeiten geistlicher Trockenheit: Dann geht es um einen (Willens-)Entschluss, Jesus neu zu suchen (vgl. 3). Tatsächlich muss man manchmal darum ringen, die Freude nicht zu verlieren oder sie wiederzufinden. Das braucht mehr als einzelne schöne Momente, nämlich Gründe und Argumente (vor allem für sich selbst) sowie Ausdauer und Beharrlichkeit.
Eine weitere Quelle der Freude ist die Erinnerung (vgl. 13) an Gottes Wirken in meinem Leben, an die Begegnung mit Christus (z.B. in der Eucharistie) und an Menschen, die mir im Glauben wichtig sind und waren.
Somit geht es um eine (regelmäßige) Vergewisserung:
Was macht mir Freude? Inwieweit sehe ich dahinter die Liebe Gottes?
In welcher Weise bin ich Jesus Christus begegnet?
Welche Akzente seiner Botschaft sind für mich – heute – besonders wertvoll?
Freude aber findet man nicht nur im Lesen in der Heiligen Schrift (besonders in den Evangelien), im Gebet, in Gottesdiensten, sondern vor allem im Tun. Das Engagement, der Einsatz, das Über-sich-selbst-Hinausschreiten macht offen für Freude – nicht das Bei-sich-Bleiben, das Absichern, das ausschließliche Pflegen der eigenen Interessen. „Das Leben wird reicher und reicher, je mehr man es hingibt, um anderen Leben zu geben. Darin besteht letztendlich die Mission“ (9). Das beinhaltet die Zuwendung zu den anderen, zu jenen, die gerade da sind, zu den Armen sowie eine aktive Anteilnahme am sozialen, politischen, wirtschaftlichen Geschehen, soweit dies möglich ist.
Das ist eng verbunden mit einer christlich verstandenen Selbstentfaltung: „Unser volles Menschsein erreichen wir, wenn wir mehr als nur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben, uns über uns selbst hinaus zu führen, damit wir zu unserem eigentlicheren Sein gelangen“ (8).
Daraus folgt einmal:
- Traurige, mutlose, ungeduldige, selbstbezogene, bequeme Verkünder sollte es nicht geben, sondern nur solche, die „die Freude Christi in sich aufgenommen haben“ (9), und sich von seiner Liebe drängen lassen (vgl. 2 Kor 5,14).
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Das evangelisierende Engagement selbst ist Quelle für die Freude am Glauben (vgl. 10). Letztlich ist Jesus Christus selbst der Evangelisierende, die Initiative liegt bei Gott, wir sind Mitarbeiter/innen (vgl. 12).
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Durch das Schöpfen aus der Quelle (Evangelium) wächst Freude und Kreativität (vgl. 11).
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Es ist immer wieder neu (vgl. 13): Man entdeckt Neues im Evangelium, man macht eine neue Glaubenserfahrung, man hat neue Mitwirkende, man ist in einer neuen Situation, es geht um „neue“ Menschen, man findet neue Ideen.
3. Missionarische Jüngerschaft
Franziskus unterscheidet drei Bereiche für die Evangelisierung (vgl. 14):
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die gewöhnliche Seelsorge, bei der die Gläubigen einbezogen sind. Hier geht es um das Wachstum der Gläubigen, „damit sie immer besser mit ihrem ganzen Leben auf die Liebe Gottes antworten“ (14);
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die Getauften („Fernstehenden“), die sich der Kirche nicht wirklich zugehörig fühlen;
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jene, die Christus noch nicht kennen, von denen aber viele Gott suchen.
„Jünger“ – „Schüler“
Die Verwendung des Begriffs „Jünger“ scheint eine deutschsprachige Eigenheit zu sein. Eigentlich müsste man mit „Schüler“ übersetzen – wie dies in anderen Sprachen geschieht.
Jedenfalls versteht man üblicherweise unter „Jünger“ jemanden, der einem anderen – einem „Meister“ – intensiv nachfolgt und sein Leben umfassend nach dessen Vorgaben gestaltet, insbesondere in der Mitarbeit und Weiterführung von dessen Werken. Das ist ein hoher Anspruch, den wohl nicht jeder Christ gleichermaßen verwirklichen will oder kann.
Und es bleibt die Frage, ob man zum Jünger berufen wird, ob man von sich aus eine solche Jüngerschaft beanspruchen kann bzw. ob man jemand anderen zum Jünger „machen“ kann. (Sicher kann man Menschen motivieren, für Gott und seinen Zuspruch offen zu sein.)
Der Begriff „Schüler“ ist offener, weil man mit unterschiedlich interessierten Schülern rechnen muss, die das zu Lernende nicht nur begeistert sondern manchmal auch nur ziemlich wenig interessiert aufnehmen. Aber jeder Schüler soll zumindest etwas annehmen und umsetzen. In diesem Sinn könnten wirklich alle Menschen etwas von Jesus lernen (und seine „Schüler“ sein): von seiner Art der Begegnungen, seinen heilbringenden Taten, seinen Worten …. Auch Nichtchristen können sich auf vielfache Weise ein Beispiel an Jesus nehmen, wenngleich sie keinesfalls seine „Jünger“ werden.
Wenn „Missionarisch-sein“ auf das dem Einzelnen gegebene Maß bezogen ist (vgl. 120), dann kann dies auch sehr klein sein, sodass – theoretisch – außer der Taufe nichts vorausgesetzt wird: keine gepflegte Christusbeziehung, kein Interesse an der Heiligen Schrift, kein praktizierendes Christsein. Vielleicht spielt noch eine Teilhabe an einer christlich geprägten Kultur (vgl. 122) eine Rolle, in der Werte des Evangeliums in gewisser Weise (implizit) wichtig sind. Vielleicht haben manche Menschen Gutes erfahren, das sie nicht „Erfahrung der Liebe Gottes“ nennen würden, das aber so gedeutet werden könnte. Vielleicht sind sie liebevolle Familienmitglieder, gute Nachbarn, in ihren Berufen kompetente und in der Öffentlichkeit aufmerksame, rücksichtsvolle Mitmenschen. Vielleicht sind sie also per definitionem evangelisierend, wenn man „Evangelisierung“ so breit verstehen möchte. –
Das nur als Denkanstoß.
Im Blick auf Evangelisierung ist der Begriff „Jünger“ hilfreich, weil es doch um einen anderen Anspruch geht, weil man dahinter eine Lebensentscheidung verstehen kann, die entsprechend anders unterstützt und begleitet werden soll.
Wer ist „ missionarischer Jünger“?
Es gibt eine gewisse Spannung bei der Frage, wer zur missionarischen Jüngerschaft berufen ist. „Jeder Christ und jede Gemeinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind aufgefordert, diesen Ruf anzunehmen“ (20).
Grundsätzlich sind dies alle Getauften, da in ihnen ja der Heilige Geist wirkt (vgl. 119).
Und zwar in dem Maß, in dem sie „der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet sind“ (120).
Jünger-sein in engerem Sinn setzt Beziehung und Kontakt zu dem voraus, der Jünger aufnimmt, beruft, um sich versammelt; also: eine persönliche, bewusste, entschiedene Nachfolge Christi. „Jesus sucht Verkünder des Evangeliums, welche die Frohe Botschaft nicht nur mit Worten verkünden, sondern vor allem mit einem Leben, das in der Gegenwart Gottes verwandelt wurde“ (259). Das bezieht sich auf alle Lebensbereiche: Beziehungen, Beruf, Freizeit, Engagement. Man lebt „Christus-nah“. Man ist ständig bereit, „den anderen die Liebe Jesu zu bringen“ (127). Man nützt die eigenen Charismen und fügt sie in das Leben des Gottesvolkes ein (vgl. 130). Man ist zum Wachsen im Glauben (vgl. 121, 160) berufen.
Wahre Verkünder leben aus dem Heiligen Geist, der die Kraft verleiht, das Evangelium mit Freimut, überall, auch gegen den Strom zu verkünden (vgl. 259). Ja, der Heilige Geist soll förmlich in den Herzen brennen, damit die Evangelisierung mit noch mehr Eifer, Großzügigkeit und Kühnheit (vgl. 261) geschieht.
4. Kirche – Volk Gottes
Natürlich ist „die Kirche“ bzw. die Gemeinschaft bzw. das ganze Volk Gottes berufen, missionarisch/evangelisierend zu sein (vgl. 111), wo und wie auch immer. Die Kirche ist ja „Sakrament des Heiles“ (112), „Ferment Gottes inmitten der Menschheit“ (114).
Eine Haltung des Aufbruchs
Durch einzelne und vor allem durch Gemeinschaften soll die Kirche immer wieder „aufbrechen" (vgl. 20-24), weil Gott die Initiative ergriffen hat und diese Initiative aufgegriffen werden soll. Das kann (soll) sich so realisieren:
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Man will Ferne und Ausgeschlossene suchen und einladen.
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Man hat den Wunsch, Barmherzigkeit anzubieten.
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Man stellt sich hilfreich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben.
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Man tut dies in einer Haltung der Demut.
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Man begleitet Menschen mit Geduld und Ausdauer.
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Man achtet auf die Früchte – nicht auf das Unkraut.
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Man jammert nicht und gerät nicht in Panik.
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Man findet einen Weg in der konkreten Situation.
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Man setzt sich vorbehaltlos ein, sogar mit dem Risiko bis hin zum Martyrium, das man nicht sucht; denn man will vor allem, dass die Botschaft Gottes ihre befreiende Kraft offenbart.
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Man versteht es, jeden kleinen Fortschritt der Evangelisierung zu feiern.
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Man evangelisiert sich selbst; man erlebt evangelisierende Situationen als Selbstevangelisierung.
An verschiedenen Stellen kommt Franziskus auf die innerkirchliche Pluralität zu sprechen. Diese ist gut und wertvoll und soll pastoral genützt werden. Da die Menschen sehr unterschiedlich sind, ist eine Vielfalt von „Angeboten“, spirituellen Stilen, pastoralen Schwerpunkten usw. als gegenseitige Ergänzung zu sehen, um möglichst viele, vielleicht sogar „alle zu erreichen“ (31). Denn das Heil „gilt allen“ (113).
Aber das funktioniert nicht, wenn einzelne Gruppen die eigene Erfahrung, den eigenen Stil, das eigene Verständnis von Lehrinhalten, die eigenen Prioritäten absolut setzen – und anderen absprechen, den Glauben so zu verkünden, wie es recht wäre.
Recht drastisch mahnt Franziskus: „Nein zum Krieg zwischen uns“ (Überschrift vor 98 – 101). Sondern: Ja zu einem Eins-sein (vgl. 99), Ja zur Versöhnung und zur Überwindung von Formen von Hass, Spaltung, Verleumdung, üble Nachrede, Rache, Eifersucht und den Wunsch, die eigenen Vorstellungen um jeden Preis durchzusetzen“ (100).
Das wäre auch ein Zeichen für Gesellschaften, deren friedliches Zusammenleben in einem labilen Zustand ist.
Grundsätzlich soll man bereit sein, „Lästigkeiten des Zusammenlebens zu ertragen“ (92). Es hilft, wenn man sich bei allen negativen Erlebnissen mit anderen Christen an Gott wendet (vgl. 92, 101).
Missionarische Erneuerung der Seelsorge
Eine Vertiefung und Vergewisserung über das eigene Geheimnis ist der Anfang für eine erneuerte Ausrichtung der Seelsorge (vgl. 26). Man stellt sich der Frage:
Wozu sind wir als Kirche, als Gemeinde, als Seelsorger/innen da?
Und die Antworten darauf sollten im Kontakt mit den Menschen gefunden werden, die vor Ort da sind. Man soll sich herausfordern lassen zu einer Erneuerung von Verwaltung, Strukturen, Gewohnheiten, Stilen, Zeitplänen, Sprachgebrauch (vgl. 27). Das bedeutet ein Überdenken des Bisherigen (vgl. 33) und das Setzen pastoral-missionarischer Prioritäten – besonders im Blick auf die Armen (vgl. 48). Ebenso geht es um eine Erneuerung der Sprache und der Ausdrucksformen (vgl. 41) sowie ggf. um ein Revidieren von Bräuchen (auch wenn diese „schön“ sind) und Normen (auch wenn diese bislang wichtig waren). Denn kirchliche Gewohnheiten und Vorschriften sollen das Leben nicht schwer oder kompliziert machen (vgl. 43). Die Kirche will offene Türen haben; alle können dazugehören und „in irgendeiner Weise am kirchlichen Leben teilnehmen“ (47).
Wertvoll ist das Zusammenspiel von Pfarren, Gruppen, Bewegungen, Verbänden, Basisgemeinden, Katholischer Aktion und anderen (vgl. 29). Das kann aufgrund der Unterschiedlichkeiten spannend sein. Jedoch geht es nicht um dieses oder jenes, sondern um die Menschen und dass sie ihren Weg zum Heil finden.
Jedenfalls: Keine Pfarre, keine Gruppe ist für sich selbst da. Sie ist entweder als Gemeinschaft missionarisch, d.h. ausgerichtet darauf, auf andere zuzugehen, andere willkommen zu heißen – oder sie ist zumindest eine Quelle der Kraft und der Glaubensfreude für die einzelnen, um in ihrer Lebenswelt evangelisierend zu sein.
Übrigens beginnt alles in wertschätzenden zwischenmenschlichen Kontakten, die spüren lassen, dass die anwesende Person in dieser Situation – jetzt – wichtiger ist als alles andere.
Stile und Wege
Vorrang hat immer die Barmherzigkeit (vgl. 37).
Evangelisierung ist zumeist ein Geschehen von Mensch zu Mensch, absichtslos, aber offen für das, was Gott in dieser Begegnung mitteilen will. Es beginnt so mit einem Gespräch (vgl. 128), mit Zuhören, Empathie, Geduld (vgl. 171). „Die Situation jedes Einzelnen vor Gott“ (172) soll anerkannt werden. Dann mag situationsgemäß ein Wort bzw. eine Botschaft Gottes auf passende Weise in einer respektvollen, freundlichen, demütigen, bezeugenden Haltung vorgestellt werden (vgl. 128).
Evangelisierung braucht „den heilsamen Rhythmus der Zuwendung … mit einem achtungsvollen Blick voll des Mitleids, der aber zugleich heilt, befreit und zum Reifen im christlichen Leben ermuntert“ (169). In diesem Sinn sind Glaubens-Begleiter (vgl. 169 – 172) – Priester, Diakone, Ordensleute, Laien – gefragt.
Dabei sind wohl zwei Ebenen zu unterschieden: eine Begleitung von Menschen, die den Glauben kennenlernen wollen (Firmbegleiter, Katechumenatsbegleiter, Mitglieder von Willkommensteams u.a.m.) und speziell ausgebildete geistliche Begleiter für jene, die ihre Gottesbeziehung intensivieren möchten.
In einer Förderung des Wachstums im Glauben ist eine „mystagogische Einführung“ (166) wertvoll, die liturgische Zeichen, Symbole, Gesten erschließt. Eine Katechese soll dem „Weg der Schönheit“ (167) besondere Aufmerksamkeit schenken: Es geht nicht nur um Wahrheit, Gerechtigkeit, sondern um eine Schönheit, die sogar durch Leid hindurchstrahlt und um die Förderung einer Kunst, die sich in eine Weitergabe des Glaubens einfügt (vgl. 167). Zu einer evangelisierenden Katechese gehört auch die Kreativität, neue Zeichen, Symbole, Sprachen, Metaphern, Gleichnisse zu finden (vgl. 167).
Nicht zu unterschätzen ist die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit (vgl. 90, 122 – 126). In ihr hat „der empfangene Glaube in einer Kultur Gestalt angenommen“ (123). Sie drückt mehr durch Symbole und Formen als durch den Verstand auf einfache Weise Spiritualität und Glauben aus (vgl. 124). Volksfrömmigkeit soll als „Frucht des inkulturierten Evangeliums“ (126) und als „theologischer Ort“ (126) verstanden werden. Ungeachtet davon sind Bräuche und Traditionen ggf. zu revidieren (vgl. 43) bzw. ist ihr Inhalt neu zu entdecken, wenn sie zu bloßen (schönen) Äußerlichkeiten geworden sind. Und es ist auch von unchristlichen Formen der Volksfrömmigkeit (vgl. 70) zu unterscheiden.
5. Versuchungen und Motivationen
Immer wieder stehen jene Personen im Vordergrund, die quasi „offiziell“ pastoral, verkündend, missionarisch, evangelisierend sind (das „Bodenpersonal Gottes“ im engeren Sinn).
Mit ihnen steht und fällt die Glaubwürdigkeit des Evangeliums, des Glaubens, der Kirche.
Versuchungen
Ein umfassendes Kapitel steht unter der Überschrift „Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen“ (76). Man erhält den Eindruck, dass das größte Problem für die Evangelisierung jene sind, von denen man eigentlich ein fruchtbares Mitwirken an der Evangelisierung erwarten würde.
Zusammenfassend geht es um einen Lebensstil und um Haltungen von seelsorglich Tätigen, durch die de facto das Evangelium und eine radikale Orientierung an Jesus Christus in den Hintergrund getreten sind. Sicher ist alles erklärbar, nachvollziehbar, aus der Situation heraus verständlich … Es ist nicht unbedingt etwas Schlechtes dabei. …. Es hindert und verhindert lediglich Wege zu Christus für die Menschen. Und das vielleicht nicht grundsätzlich, sondern eben immer wieder einmal …
Man kann (verkürzt) aufzählen:
Bequemlichkeit, Absicherung, Selbstsorge (78), Minderwertigkeitsgefühle aufgrund negativer medialer Berichterstattungen über die Kirche (79), Relativismus (80), persönliche Freiräume werden wichtiger als Evangelisierung (81), Aktivismus ohne Spiritualität (82), Pragmatismus (83), Pessimismus (84, 85), Selbstgefälligkeit bzw. das Streben nach der eigenen Ehre (95), Besserwisserei: „man müsste/sollte/könnte …“ (96) usw.
Im Blick auf die Versuchung einer schlechten Vorbereitung auf die Homilie widmet Franziskus dieser Thematik ein ausführliches Kapitel (135 – 159). Und das hat wohl seinen Grund. Man wünscht jedenfalls, dass sich ab nun alle Prediger verbindlich daran orientieren müssen.
Motivationen
Die üblichen Antworten auf Schwierigkeiten aller Art gibt es auch hier: Wende dich wieder an Christus (vgl. 87, 264), vertraue seiner Gegenwart (276, 277) und der Führung Gottes (278) sowie dem Heiligen Geist (280). Aber das sind keine frommen Floskeln, wenn man mit seiner ganzen Person dahintersteht.
Motivierend ist die Begegnung mit den Menschen: mit jenen, mit denen man Glauben teilt (vgl. 87) und mit anderen, bei denen Begegnung ein Aus-sich-Herausgehen und ein „Risiko“ bedeutet (88).
Evangelisieren selbst ist motivierend, wenn das Engagement in einem guten Verhältnis zur Kontemplation steht (vgl. 262).
Hilfreich ist die Erinnerung an Menschen, auch an Heilige, die uns auf dem Weg des Glaubens Helfer, Begleiter, Vorbilder waren (263).
Und einiges kann man sich bewusst machen:
Man ist Teil eines Volkes, man ist Mitglied einer Gemeinschaft, die sich an Jesus orientieren will (269). Man ist nicht allein.
Jeder Mensch ist von Gott geliebt und würdig, dass man sich für ihn einsetzt (vgl. 274). Denn letztlich begegnet in ihm auch Christus.
Vor allem: „Ich habe eine Mission auf dieser Erde“ (273)! Mein Leben hat Sinn, unendlich viel Sinn. Ich bin berufen, mehr Liebe auf diese Welt zu bringen.
6. Soziale Fragen
Die Verkündigung „besitzt einen unausweichlich sozialen Inhalt: Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen“ (177). Dem Kern nach geht es auch hier um „Liebe“ in jeder angemessenen Form. Gott will das Glück der Menschen auf dieser Erde, nicht erst in einem jenseitigen Himmel. In diesem Sinn bezieht sich Evangelisierung nicht auf einen privaten Bereich, sondern auch auf die sozialen Wirklichkeiten einschließlich der Schöpfung (vgl. 182).
Gesellschaftliche Entwicklungen
Es gibt erfreuliche und beunruhigende Entwicklungen auf unserer Erde. Diese fordern heraus, eine „Unterscheidung anhand des Evangeliums“ (50) zu treffen, um die „Zeichen der Zeit“ (51) herauszufiltern und z.B. von eventuellen Trends zu differenzieren.
Manchmal kann man Früchte des Geistes Gottes förmlich sehen, anderswo scheint es mühsamer zu sein – und es braucht das von ihm begleitete evangelisierende Engagement: Gegen Wirtschaftsmodelle, die viele ausschließen (53), gegen eine Globalisierung der Gleichgültigkeit (54), gegen die Vergötterung des Geldes (56), gegen soziale Ungerechtigkeit im eigenen Land und weltweit, gegen Relativismus und Orientierungslosigkeit (65) usw.
Bei vielen Themen braucht es neben einer christlichen Überzeugung auch Sachkompetenz.
Kultur
Des Öfteren betont Franziskus die Bedeutung der Kultur. Menschen sind kulturell beheimatet (vgl. 115). Wertvoll ist eine „evangelisierende Kultur“ (68), in der etwa Solidarität ein Grundwert ist. Um Kulturen zu evangelisieren braucht es Prozesse (69), Lebensstile (vgl. 72), Dialoge, anziehende Beispiele, neue Orte für Gebet und Gemeinschaft, die für die Bevölkerung anziehend sind (vgl. 73).
Angesichts der kulturellen Vielfalt sind verschiedene kulturelle Modelle der Kirche (vgl. 117) wertvoll, auch wenn diese zueinander in Spannung stehen. Diese können teilweise rein menschlich nicht überwunden werden, dazu braucht es das Wirken des Heiligen Geistes, der imstande ist, eine gewisse Harmonie zwischen den verschiedenen christlichen Kulturen zu schaffen (vgl. 117). Man denke nur an „Liberale“ und „Konservative“, an „Charismatische“ und an „Pragmatische“, an „Intellektuelle“ und „einfach Fromme“ oder an die unterschiedlichen Mentalitäten von Katholiken aus verschiedenen Ländern und Regionen. Aber: „Es ist unbestreitbar, dass eine einzige Kultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht erschöpfend darstellt“ (118). Dazu braucht es schon das Zusammenwirken vieler Kulturen.
Option für die Armen
Besonders die Armen (186 – 201) sind vielleicht der Ernstfall der Evangelisierung. Sie sind eine „theologische Kategorie“ (198), bevor es um kulturelle, soziologische, politische Fragen geht.
Im Kontext einer neuen Evangelisierung gilt die „Einladung, die heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen“ (198). Es geht „vor allem um eine aufmerksame Zuwendung“ (199) und erst danach um Hilfsprogramme. Arme sollen „hochgeschätzt“ (199) werden, sodass sie sich „in jeder christlichen Gemeinde wie ‚zu Hause‘ fühlen“ (199).
Das ist mehr als diese oder jene gute Tat, mehr als Altruismus, mehr als humanistische Menschenfreundlichkeit. Man erahnt im Armen Christus selbst (vgl. Mt 25,40) und sieht durch sein äußeres Erscheinungsbild hindurch den von Gott einzigartig geliebten Menschen. „Die echte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubt uns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitelkeit zu dienen, sondern weil es schön ist“ (199).
Weitere zentrale soziale Themen
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden einige gesellschaftliche Herausforderungen hervorgehoben:
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Die Welt der Wirtschaft und der Politik (202 – 208)
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Der Einsatz für die Schwachen (209 – 214) und für die Schöpfung (181, 215)
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Das Engagement für Frieden und Konfliktlösungen (217 – 230)
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Der Dialog mit allen (238 – 258)
7. Drei exemplarische Schlussfolgerungen
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Jeder ist zur Evangelisierung berufen – entsprechend den persönlichen Christus-Erfahrungen, den eigenen Charismen, den realistischen Möglichkeiten – vor allem durch Barmherzigkeit; sodann durch Präsenz, Kompetenz, Offenheit im Zugehen auf andere.
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Evangelisierung ist auf Erneuerung ausgerichtet: auf innerkirchliche Erneuerungen, aber auch auf in christlichem Sinn zu erneuernde gesellschaftliche Wirklichkeiten.
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Glaubenslehre und Soziallehre sind gleichwertig. Es geht um den ganzen Menschen und die umfassende Förderung seines Mensch-seins.
Text: Walter Krieger